Hölderlin

Ausblick aus dem Turm

Zu den wundersamen Geschichten in Hölderlins Leben gehört die Bereitschaft des Schreinermeisters Ernst Zimmer, den gemütskranken und labilen Dichter in sein Haus und seine Familie aufzunehmen. Zimmer bewunderte den Dichter des Hyperion und bot dem aus der Psychiatrie entlassenen Hölderlin ein Dach über dem Kopf und Pflege an. Aus Hölderlins Zimmer bot sich ein Ausblick auf eine offene Landschaft, denn zu dieser Zeit war der Neckar noch wild, die Strömung heftig. Es gab weder die Neckarinsel mit der Platanenallee, die erst um 1822 angelegt wurde, noch die heutige Bebauung.

Der Dichter Hölderlin

Leben und Werk des für wahnsinnig gehaltenen Dichtergenies wurden in dem vergangenen Vierteljahrtausend unendlich oft debattiert und bewertet. Vieles wurde verklärt und der Realität entrückt. Man wollte glauben, dass Hölderlin nur platonisch lieben konnte oder wertete sein Werk als Zeugnis der Geisteskrankheit ab. Manche Interpreten wollten in seinem ‚Wortsalat‘ (Dr. Wilhelm Lange: Hölderlin. Eine Pathographie, Tübingen 1908) nur eindeutige Zeichen des Irrsinns erkennen und keineswegs die Handschrift des Avantgardisten, der seiner Zeit künstlerisch weit voraus war. Andere wiederum verklärten ihn als romantisches Genie. Über seinen Geisteszustand wurde und wird vieles geschrieben und weniges gewusst. Vieles in seiner Lebensgeschichte, und vor allem die drei Jahrzehnte im Tübinger Turm, sind umstritten, es tobt ein Streit über Normalität, Wahnsinn und Künstlertum. Hölderlin passte nicht in die Norm der damaligen Gesellschaft und war gerade darum ein scharfsinniger Beobachter, der existentiellen Fragen auf den Grund ging.

Der Avantgardist Hölderlin dachte und schrieb radikaler als viele seiner Zeitgenossen. Die Essenz seines Werkes besteht in der Musik, in Klang, Harmonie und Rhythmus. Hölderlins Poesie erschließt sich am besten im Prozess des Sprechens, Hörens oder Singens, da sie rhythmisch komplex und spannungsreich aufgebaut ist. Seine Gedichte sind metrische Wunder, die er oftmals im Gehen erfand. Unermüdlich soll Hölderlin in Bewegung gewesen sein, zunächst auf der Flucht vor dem vorgesehenen Beruf als Pfarrer, aber auch noch in seinen späten Jahren. Bereits als geistig verwirrt geltend, lief er täglich von früh an vier bis fünf Stunden am Neckar auf und ab, auf einem schmalen Weg, der zum Garten des Turms gehört, in dem er für die letzten 36 Jahre seines Lebens wohnte. Immer wieder hat er auf diese Weise sein Schuhwerk zerstört. Hölderlin war ein äußerst begabter Musiker. Er spielte Klavier, Geige und Flöte, letztere bereits in seiner Zeit im Stift so virtuos, dass sein Lehrer, der blinde Flötenvirtuose Friedrich Ludwig Dulon (1769–1826), angeblich aufgegeben haben soll, Hölderlin zu unterrichten, weil er dem Studenten der Theologie nichts mehr beibringen konnte. Seine Tage im Tübinger Turm als weltabgewandter Dichter verbrachte Hölderlin dichtend und musizierend.

Auch in den Animationen werden Hölderlins Gang, der Rhythmus, seine unablässigen Bewegungen, seine Wanderungen (z.B. von einer Hauslehrerstelle zur nächsten) im Kontrast zu den Zeiten der Isolation und Fixierung (z.B. während der Behandlung in der Tübinger Klinik) in Bezug zur Musik gesetzt, die sich als tröstender Klang und Rhythmus durch Leben und Werk zieht. Hölderlin litt an seiner eigenen Zeit, blieb unverstanden – sicher nicht nur aufgrund seiner psychischen Verfassung – und er wurde phasenweise sogar fast vergessen. Als Beleg für die Vorwegnahme der Ästhetik der Avantgarde durch den Dichter, der jahrzehntelang in einem Turm Zuflucht vor seiner eigenen Zeit fand, dienen die Vielfalt und Vielgestaltigkeit der Hölderlin-Kompositionen im 20. Jahrhundert.

Hölderlins Jugend

Faszinierend an der historischen Person Hölderlin, die von vielen berühmten Denkern und Künstlern interpretiert wurde, ist seine bereits in jungen Jahren vollzogene Weigerung dazuzugehören, Rädchen im Getriebe einer äußerlich funktionierenden Welt zu sein. Hölderlin verweigerte sich einem vorgezeichneten Lebensweg als Theologe, war äußerst dünnhäutig und sensibel und zugleich zu außerordentlichen Kraftanstrengungen in der Lage. Er liebte und litt, war sprunghaft und zu tiefen Gefühlen fähig.

Die Zeit im Stift

Hölderlin studierte fünf Jahre Philosophie und Theologie im Tübinger Evangelischen Stift. Ist das Stift heute ein lebendiger und idyllischer Ort, so war er zur Zeit Hölderlins eine eher strenge und veraltete Zuchtanstalt für angehende Pfarrer. Hölderlin klagte bereits kurz nach seinem Eintritt über Kälte, Hunger und das Essen und flehte seine Mutter an, Jura studieren zu dürfen. Doch dieser Wunsch wurde ihm versagt, schon allein der hohen Kosten wegen, die mit diesem Abbruch des Studiums verbunden gewesen wären. 1793 verließ Hölderlin das Stift, arbeitete jedoch nicht als Pfarrer, sondern als Hauslehrer bei wohlhabenden Familien.

Die Liebe zu Susette

Susette Gontard (1769-1802) war Hölderlins große Liebe und Seelenverwandte, ihre Rolle sticht aus seinen Herzensangelegenheiten weit heraus. Als intellektuelle Gefährtin und Vorbild für Hölderlins literarische Figur der Diotima so nah an dem Dichter, war sie aber bereits die Gattin eines anderen Mannes. Hölderlin musste die reiche Kaufmannsfamilie Gontard in Frankfurt überstürzt verlassen, für die er als Hauslehrer gewirkt hatte, weil die geheime Liebesbeziehung dem Ehemann nicht verborgen geblieben war. Die im 20. Jahrhundert publizierten Liebesbriefe Susettes bewahrte Hölderlin im Geheimfach eines Koffers auf, den er stets bei sich trug und auch noch in den Jahrzehnten im Turm aufbewahrte. Die Briefe zeigen, unter welchen Schwierigkeiten Hölderlin und Susette Kontakt zu halten versuchten und mit welchen tiefen seelischen Schmerzen die Trennung verbunden war. 

Hölderlins Wanderungen

Zu den besonderen Schlüsselszenen in Hölderlins Leben gehört die Reise von Nürtingen nach Bordeaux, die der Dichter im Winter 1801/02 zu Fuß unternommen hat. Hölderlin war ein großer Wanderer und seine Gedichte sind metrische Wunder, die er oftmals im Gehen erfand. Der Weg durch die Alpen war gefährlich und so trug Hölderlin auch eine geladene Pistole im Gepäck. Räuber, Revolutionäre und Abtrünnige durchstreiften die Berge und begegneten Alleinreisenden nicht immer freundlich. In Bordeaux erblickte Hölderlin zum ersten Mal das Meer, das für ihn so viel Bedeutung hatte.

Zu dieser biografischen Episode gehört auch die Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution, durch die Hölderlins Denken geprägt war.

Die große Krise – Verlust der Geliebten

Während Hölderlins Aufenthalt in Bordeaux erkrankte Susette Gontard an den Röteln und verstarb sehr jung, mit gerade einmal dreiunddreißig Jahren, am 22.06.1802. Die genauen Umstände, unter denen Hölderlin vom Tod seiner ‚Diotima‘ erfahren hat, sind nicht geklärt, aber es ist ein Brief seines Freundes Isaac von Sinclair vom 30.06.1802 erhalten, der die Nachricht des Todes enthält. Ihr Tod riss eine tiefe Wunde in Hölderlins Seele und hinterließ einen ewig anhaltenden Schmerz.

Die Klinik

Nach seiner Rückkehr aus Bordeaux im Jahr 1802 verschlechterte sich Hölderlins Gemütszustand. 1805 berichtete sein Homburger Arzt in einem Gutachten „Hölderlin sei zerrüttet und sein Wahnsinn in Raserei übergegangen“. Im September 1806 wurde Hölderlin unter Zwang in einer Kutsche nach Tübingen, in die neue Universitätsklinik zu Johann Ferdinand Heinrich Autenrieth gebracht. Dort wurde er beinahe acht Monate lang festgehalten und zwangsbehandelt. Prof. Autenrieth galt als fortschrittlich, doch seine Behandlung brachte keine Verbesserung, sie war sogar schädlich. Hölderlin erlitt u.a. eine Quecksilbervergiftung, die weitere schwere Persönlichkeitsveränderungen nach sich zog. 

Das Leben im Turm

Die zweite Hälfte seines Lebens, seine letzten 36 Jahre, verbrachte Hölderlin zurückgezogen und weltabgewandt bei der Familie Zimmer im Tübinger Turm, in dem er dichtete und musizierte. Täglich lief er über mehrere Stunden den schmalen Pfad am Neckar entlang, zerstörte auf diese Weise bald seine Schuhe, aber im Rhythmus seines Laufens entstanden die Rhythmen seiner Gedichte.

Über seinen Geisteszustand wurde und wird vieles geschrieben und wenig gewusst. Vieles in seiner Lebensgeschichte, und vor allem die Zeit im Tübinger Turm sind umstritten, es tobt ein Streit um Normalität, Wahnsinn und Künstlertum. Hölderlin passte nicht in die Norm der damaligen Gesellschaft und war gerade darum ein scharfsinniger Beobachter, der existentiellen Fragen auf den Grund ging. Doch gerade die späten Turmgedichte wurden zur Inspirationsquelle für die Musik der Moderne.